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Stapellauf der Unterweltboote: Die "Manifesta 4" zeigt junge, vernetzte Kunst
Frankfurter Allgemeine Zeitung | 25.05.2002
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++++ Jung, offen, vernetzt: Die "Manifesta 4" macht Frankfurt zum Zentrum des Kunsttourismus
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++++ Was ist ein Optimist? Ein Segelboot der kleinsten Klasse. Das Exemplar von Hans Schabus läßt sich obendrein zusammenklappen und wie ein Schubkarren auch dann noch bewegen, wenn die Wasser abgeflossen sind. "Forlorn" verkündet der sprechende Name der Jolle, mit der, könnte man seinen Augen trauen, der Nachfahre des Odysseus aus Wien bis nach Frankfurt gefahren sein will - und dabei nicht verlorengegangen ist. In New York war er auch schon, Atlantik hin oder her. Im Gepäck die Erinnerung an Jan Bas Ader, der wirklich verlorengegangen ist und dessen eigenwillige Aktionen beißender, irrsinniger und keineswegs konsensfähig waren. Vor allem aber folgt Schabus dem Ruf der Tiefe und schlüpft - glauben wir seinem Film "Western" - ganz wie im "Dritten Mann" durch das Schalloch der Zitter in die Unterwelt der Abwasserkanäle Wiens. Wohin aber fahren auf diesem Strom aus Fäkalien und Abfall? Westwärts, wie viele hoffnungsfrohe Kolonisatoren und Migranten? Schon Rilke dichtete skeptisch: "Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?"

Was ist eine "Manifesta"? Glaubte man den vielen Rednerinnen und Rednern, die auf der Pressekonferenz in Frankfurt nicht müde wurden, sich gegenseitig und das ambitionierte Unternehmen zu feiern, so scheint es sich um so etwas wie eine kleine Olympiade für den Kunstnachwuchs zu handeln. Eines vor allem soll diese "Europäische Biennale zeitgenössischer Kunst" sein: ein transparenter, spezifischer Prozeß. Gekostet hat er 2,1 Millionen Euro, und weil die junge Kunst noch immer boomt, alle offen und kommunikativ sind, stimmen sie alle ein in einen großen Konsenskanon. Nicolaus Schafhausen, der Leiter des örtlichen Kunstvereins, der wesentlich dazu beigetragen hat, daß die "Manifesta 4" nach Frankfurt kam, hat schon vorab ausgesprochen, worum es geht: Frankfurt stehe jetzt "im Zentrum des europäischen Kunsttourismus". So ist das eben.

Dabei sichert nicht einmal mehr der Eigenname Identität, wie man dem ernst-ironischen Video des 1975 in China geborenen Jun Yang entnehmen kann, der 1979 mit seiner Familie nach Wien emigrierte. Wird sein Name schon im Chinesischen unterschiedlich ausgesprochen, so verändert er sich innerhalb eines fremden kulturellen Kontextes auf geradezu atemberaubende Weise. Jun Yang, das ist der Soldat Holzer. Oder die Schöne Pappel? Und aus Jun wird schnell June, also eine Frau. Ob es ihm gefällt oder nicht. Oder aus Yang - im Englischen - flugs Young.

Wo also bleibt der unverwechselbare Einzelne? Oft genug auf der Strecke, wie die nette Parabel vorführt. Kaum weniger irritierend erscheint das Spiel, in das Gerard Byrne die Wirklichkeit verwickelt, mit einer Prise Brecht und in einem Dialog, den Frank Sinatra und der ehemalige Chrysler-Boß Lee Iacocca 1980 über ein neues Luxusgefährt geführt haben und den Byrne einer Anzeige im "National Geographic Magazine" entnommen hat. Sein Video wird zur gebrochenen "Straßenszene", wo man nur schwer festzustellen vermag, ob sie erfunden, nachgestellt, ob sie authentisch oder nur lustig ist. Die Welt ein weitverzweigtes System, der Mensch ein namenlos darin treibendes Partikel - und das Ganze nur die Erfindung von Werbetextern? Man stößt auf viele solcher Fragen bei der Manifesta 4, weniger auf Antworten. Aber man findet durchaus überraschende, zögerliche, skurrile Geschichten, scheinbar nutzlose Analysen, die immer wieder andere Fragen aufwerfen. Wie erfahren wir etwas? Wie konstituiert sich Wissen? Und wie verändert sich dabei das Subjekt? Gibt es in all dem, was wir von der Welt zu wissen glauben, was wir in Texten und Bildern konstruieren und Wirklichkeit nennen, überhaupt noch so etwas wie ein Fundament? Oder taucht nur hier und da ein Fragment auf?

Diese "Manifesta" ist eine nichttriviale Beziehungsmaschine. Viele geben Input in sie hinein, aber keiner weiß, welcher Output dabei entsteht. Was diese Maschine produziert, ist ein offenes, vernetztes Feld der Kunst, ein Terrain der Annäherung, der Untersuchung. Video, Perfomance, Fotografie, Assemblagen, Installationen - gezeigt wird die Kunst nach der Auflösung aller Gattungen und Grenzen. Kunstprodukte vom Fließband der Gegenwart: medial, vernetzt, jung.

Das, was sich heute Projekt statt Ausstellung nennt, weil es deren räumliche, zeitliche, politische und institutionelle Grenzen als aufgehoben voraussetzt, verdankt sich im Falle der "Manifesta 4" drei Kuratorinnen, Iara Boubnova, Nuria Enguita Mayo und Stéphanie Moisdon Trembley, und der Mithilfe zahlreicher Institutionen und Individuen in ganz Europa. Und so ist, was an vier Hauptschauplätzen, im Frankfurter Kunstverein, im Portikus, im Städelschen Kunstinstitut und in den Räumen des Frankensteiner Hofs, konzentriert oder hier und da im Stadtraum verstreut dargeboten wird, nur ein Ausschnitt eines wuchernden Komplexes, der sich in einem "Trespassing Space", in Rundfunk, Fernsehen und Internet fortsetzt.

Wer sich von einer derart offenen, aus unterschiedlichen Kulturen, Medien, Institutionen gespeisten Melange Ordnung oder gar einen Überblick erhofft, der wird zwangsläufig enttäuscht. Entfaltet wird statt dessen eine Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven und Lesarten, wobei der Besucher eingeladen ist, seinen eigenen Zugang zu suchen, zu wählen, zu verpassen, wiederzufinden. Eine Entwertung einzelner Werke durch ein Höchstmaß an Pluralität läßt sich dabei kaum vermeiden. Ist das noch Kunst, wird sich mancher fragen, der selten mit den Netzwerken der Jungen in Berührung gekommen ist. Darum aber geht es längst nicht mehr, da es offenbar keinen anderen Bereich gibt als den der Kunst, in dem eine solche Vielfalt von Untersuchungen, Dokumentationen, Erzählweisen, Maskierungen und Demaskierungen stattfinden könnte - ohne sogleich produktiv, effizient, verwertbar sein zu müssen. Diese Kunst ist geradezu versessen darauf, etwas über das eigene Ich, die sich in rasantem Tempo verändernde Welt, über Beziehungen und Perspektiven zu erfahren, einfach etwas herauszubekommen, gleichviel, was am Ende damit erreicht oder gesagt worden ist. Alles ist Kultur, also spielen wir mit.

Bei soviel Offenheit wundert es kaum, daß jede Gelegenheit ergriffen wird, sich abzusichern. Das beweist die Zahl der beratenden Gremien ebenso wie die vielen Archive, die ausgebreitet werden. "Kiosk" nennt der Verleger Christoph Keller sein wanderndes und sich wandelndes Archiv, das aus den Publikationen von siebzig Kleinverlagen besteht und neben Büchern, Broschüren und Videos auch Finanzierungs- und Distributionsformen offenlegt. Wenn dann auch noch die Recherchearbeit des Manifesta-Teams wie ein kleiner "Salon des Refugés" ausgebreitet wird, so reibt man sich doch verwundert die Augen. Alles wird transparent, von Verantwortung und Macht aber spricht niemand.

Gerahmt ist dieses deplazierte und ständig umplazierbare Archiv, für das Mathieu Mercier bewegliche "Bausteine" geschaffen hat, von einer subtilen Zeichnungsserie von Fernando Bryce, der das Auf und Ab der Geschichte seines Heimatlandes Peru im zwanzigsten Jahrhundert durch die Brille der Werbung, der offiziellen Propaganda, der Tourismusbroschüren und der Verlautbarungen betrachtet und nebenbei auch das Einbezogensein in den weltweiten Strom der Waren und der Ideologien aufdeckt - von Eternit bis Ford. Daneben gibt es zahlreiche Reflexionen über die Prägungen durch die Moderne, etwa wenn Jonas Dahlberg den Blick in eine modellhafte, nächtliche und von erleuchteten kubischen Glashäusern gesäumte "Einbahnstraße" lockt und die ruhige Fahrt - mit Blick auf das angrenzende Technische Rathaus - nicht enden will. Studien zum Profil und zum Einfluß eines "Durchschnittsbürgers" führt Måns Wrange am Beispiel einer wenig revolutionären "Marianne" durch, und auf Umwegen sickert auch unmittelbar Politisches ein, werden "Risk Assessment Services" dokumentiert, die Trainingsprogramme für Journalisten anbieten, die in Krisenregionen oder als Kriegsberichterstatter arbeiten.

Es reicht diesen Künstlerinnen und Künstlern nicht, das unzureichende Bestehende mit erprobten künstlerischen Mitteln darzustellen; sie wollen, was in Komplexität erstarrt scheint, erkunden, verstehen, vielleicht sogar verändern. Zum Realen dringen sie trotz allem nicht vor. Davor bewahrt sie allein schon das Streben nach Konsens und Transparenz - und ein Projekt, das so offen ist, daß es wenig riskiert und alle gut bedient.

Bis 25. August an verschiedenen Schauplätzen in Frankfurt. Ein Kurzführer kostet 5 Euro, der Katalog, Verlag Hatje Cantz, 20 Euro.

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von/by Thomas Wagner

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